Der Stein der Weisen oder Sechs Tipps für den Umgang mit Blasen

Lang lang ist´s her, dass ich in der katholischen Kirche engagiert war. Es war eine super Zeit und vor allem eine tolle Gemeinschaft, in der wir damals – zusammen mit anderen Familien – in dem ehemaligen Kloster Nothgottes im Rheingau jährlich die Kar- und Oster-Tage und in den Sommerferien die Bibelwerkwoche miteinander verbracht haben.
Alle Angebote waren liebevoll und kreativ gestaltet und die Symbolsprache der Geschichten und Gegenstände ist mir zum Teil heute noch in Erinnerung.

Einer dieser Gegenstände war der „Stein der Weisen“. Ich weiß nicht mehr, ob er damals auch so genannt wurde, aber er ist genau das für mich geworden und ich bewahre ihn immer noch als Davor-Rum-Steherli in meinem Regal mit der Fachliteratur auf.

Es war in einem Familien-Gottesdienst, in dem wir ihn verteilt bekamen. Ein Stein, der auf der einen Seite „Ich“ und auf der anderen Seite „Du“ stehen hat. Beide Seiten ließen sich mit unseren menschlichen Augen nicht gleichzeitig sehen. Ich konnte und kann nur entweder „Ich“ = mich sehen oder „Du“ = Dich sehen. Will ich die andere Seite sehen, muss ich die erste umdrehen = ausblenden.

Dieser „Stein der Weisen“ kommt mir jetzt wieder in den Sinn, wo ich eine Spaltung in unserer Gesellschaft wahrnehme.

Wir sitzen in Blasen

Ich sehe, dass die meisten Menschen in Blasen sitzen, in ihrer eigenen Welt, in ihrem eigenen Fühlen, Wahrnehmen und Denken. (Und ich schließe mich da nicht aus!)

Wir sind in unserer Welt, in unserem Fühlen, Wahrnehmen und Denken gefangen. Wir konsumieren die Infos, die zu unserer Sicht der Dinge passen und uns immer wieder darin bestätigen. Und wir reden überwiegend mit den Menschen, die mit uns einer Meinung sind und uns dadurch stärken.
Das ist normal und hilfreich und es wird durch das von mir entwickelte Modell des menschlichen Verhaltens, dem Paradiesbaum, bestätigt.

Wir sind an Grenzen gestoßen

– Niemand von uns hat sich dieses Virus, das Menschen erkranken und sterben lässt, gewünscht.
– Niemand von uns hat sich eine weltweite Pandemie, die uns das Reisen privater und beruflicher Art verbietet, gewünscht.
– Niemand von uns hat sich einen Lockdown, geschlossene Geschäfte, Kitas und Schulen, Kurzarbeit, wegfallende Einnahmen in der Selbstständigkeit und so weiter gewünscht.
– Niemand von uns hat es sich gewünscht, mit Maske herum laufen und bei allen Gelegenheiten Name und Adresse hinterlassen müssen.

Heftige Grenzen wurden uns gesetzt – von jetzt auf gleich. Wir hatten keine Chance, uns auf das vorzubereiten, was alles passiert ist.
Durch das Erleben solcher Grenzen fühlen wir uns klein, hilflos und ohnmächtig. Denn da ist plötzlich etwas Größeres, Mächtigeres, Stärkeres, gegen das wir nicht ankommen.

Wir wollen uns stark fühlen können

Wollen wir uns klein, hilflos und ohnmächtig fühlen?
Ich behaupte: Nein, kein Mensch möchte sich klein, hilflos und ohnmächtig fühlen.
Im Gegenteil wünschen wir uns doch alle stark zu sein, etwas bewirken und unser Leben selbst und frei gestalten zu können.
Das heißt, dass durch Corona und durch die Maßnahmen unser Selbstbild nicht (mehr) unserem Idealbild entspricht.
– Ich kann nicht so sein, wie ich sein möchte.
– Ich kann nicht so leben, wie ich leben möchte.
– Ich kann nicht mal so fühlen, wie ich fühlen möchte.
Denn da ist auf einmal etwas sehr Bedrohliches in der Welt.

Drei Möglichkeiten des Umgangs mit Grenzen

Der Paradiesbaum zeigt auf, dass wir auf drei Arten mit dieser Diskrepanz zwischen unserem Wunsch und der tatsächlichen Situation umgehen können.
– Die erste Möglichkeit ist es zu resignieren und sich dem Gefühl der Hilflosigkeit hinzugeben.
– Die zweite Möglichkeit ist es, sich auf Kosten anderer zu stärken. Indem ich andere abwerte, gewinne ich mein Gefühl von Stärke zurück.
– Und die dritte Möglichkeit ist es, auf Augenhöhe mit anderen Menschen nach Lösungen zu suchen.
Lies dazu auch meinen Blogartikel zu „Corona, Prävention und die Logik“.

Die Spaltung in der Gesellschaft

Die oben geschilderten Menschen, die in ihrer Blase sitzen, stärken sich überwiegend auf Kosten anderer. – Ja, ich tue das auch oft, denn es tut einfach gut, sich mit den Gedanken, Fragen und Werten nicht allein fühlen zu müssen. – Aber genau dadurch verstärkt sich die Spaltung in unserer Gesellschaft immer mehr.

Wollen wir die Spaltung der Gesellschaft?
Nein!
Vermutlich wünscht sich niemand – auch Du nicht – eine gespaltene Gesellschaft, denn die wird früher oder später zu (noch) mehr Druck und Gewalt führen.

Deshalb habe ich mir ein paar Gedanken gemacht, welche Möglichkeiten es gibt, aus unseren Blasen vorsichtige Schritte heraus zu machen, um die Spaltung zu überwinden.

Sechs Tipps zum Umgang mit Blasen

1. Wahrnehmung:

Der erste Schritt ist es, zu sehen, dass da gerade etwas nicht so läuft, wie wir es uns wünschen. Und damit meine ich nicht die Maßnahmen der Regierung oder die vielen, die sie nicht richtig finden und deshalb vielleicht sogar ignorieren. Sondern ich meine das Wahrnehmen der Spaltung, das Hochschaukeln der gegensätzlichen Meinungen, das sich zunehmend in Gewalt zeigt, verbal sowieso, aber auch in handgreiflicher Gewalt.

2. Ziel klar bekommen:

Hast Du Dir schon Gedanken darüber gemacht, in welcher Art Gesellschaft Du leben willst? Willst Du als eigenständige Persönlichkeit wahrgenommen werden? Oder ist es Dir lieber als ein gleiches Teil in der großen Masse zu verschwinden? Welche Art von Umgang zwischen den Menschen wünschst Du Dir: Auf Augenhöhe? Oder findest Du von oben herab richtig und gut? Und wenn letzteres: Nur dann, wenn Du „oben“ bist? Oder ist es auch dann gut, wenn Du herabgewürdigt wirst?
Also: Welche Art von Umgang mit Dir selbst und mit anderen Menschen wünschst Du Dir?

3. Selbstfürsorge:

Hast Du schon mal beobachtet, wann Du Dich gut anderen zuwenden kannst und wann es Dir weniger gut gelingt?
Ich sehe es bei mir selbst und sehe es auch sehr gut bei anderen Menschen: Wenn es mir gut geht und ich in mir ruhe, wenn ich gute Laune habe und mich wohlfühle, dann kann ich andere sehr gut so sein lassen, wie sie sind. Dann bin ich wertschätzend und sachlich und auf Augenhöhe.
Und immer dann, wenn es mir schlecht geht – und diese ganze Krise trägt dazu bei – finde ich Anlässe zum Meckern, mache andere mit ihrem Fühlen, Denken und Verhalten runter und habe wenig Verständnis für Andere.

Was können wir daraus schließen?
Klar: Sorge dafür, dass es Dir gut geht, damit es den Menschen, mit denen Du zu tun hast, auch gut gehen kann.

4. Fragen:

Wenn es Dir gut geht, kannst Du beginnen aus Deiner Blase heraus in die der anderen zu schauen. Der erste einfache Schritt dazu ist das Nachfragen. Zum Beispiel:
– Warum findest Du es wichtig eine Maske zu tragen?
Oder auch: Warum findest Du es richtig keine Maske zu tragen?
– Warum sind Dir die Alten und Risikokranken so wichtig, dass für ihren Schutz die Wirtschaft an die Wand gefahren werden muss?
Oder: Warum ist Dir die Wirtschaft wichtiger als die Gesundheit der Menschen?
– Warum denkst Du, dass Menschen möglichst lange leben sollen?
Oder: Warum ist Dir die Lebensdauer weniger wichtig als die Lebensqualität?

Das lässt sich jetzt endlos fortsetzen, denn Fragen gibt es viele.

5. Verstehen:

Wenn wir es schaffen, nicht nur zu fragen, sondern auch die Antworten zu hören und so lange nachzufragen, bis wir die Haltung der anderen verstanden haben, dann haben wir schon den wichtigsten Schritt zum Verlassen unserer Blase getan.
Nein, das heißt natürlich nicht, dass wir nicht zurückkönnen und nun in die Blase der anderen eintauchen und unser „altes“ Fühlen, Denken und Handeln aufgeben müssen.
Aber das ist Kommunikation auf Augenhöhe: Die anderen zu verstehen, weshalb sie so fühlen, denken und handeln.

6. Agieren für Sehr-weit-Fortgeschrittene:

Diejenigen von uns, die diese ersten Schritte nach und nach geschafft haben, können sich dann mit den anderen Fortgeschrittenen ihrer eigenen und der fremden Blase zusammen tun und sachlich auf Augenhöhe miteinander schauen, welche Lösungen es geben kann, um gemeinsam die weitere Spaltung der Gesellschaft zu verhindern. Ich weiß, das ist keine einfache Aufgabe. Und ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht, ob es dafür wirklich eine Lösung gibt.
Meine Hoffnung ist es, über die Einigung auf grundsätzliche Werte und den daraus logisch folgenden Verhaltensweisen ein Miteinander zu schaffen. Ausprobiert habe ich es aber noch nicht und ich weiß auch niemand, der/die das schon mal ausprobiert hat.

Wenn Du Dich für eine sachliche Lösungssuche auf Augenhöhe bereit fühlst, dann schreibe mir. Gerne mache ich mich mit Dir auf den Weg zu einer besseren Gesellschaft!

Ja, und um nochmal auf den Stein der Weisen zu kommen: Wenn wir uns in Bewegung setzen, dann können wir vom Ich über das Du zum Wir kommen. Aber das Entscheidende dabei ist die Bewegung – und zwar die ständige Bewegung. Ohne mich und ohne Dich zu sehen, kann sich kein gutes Wir entwickeln. Wir brauchen dazu das Hin und Her, das „Mal-sich-selbst-“ und das „Mal-die-anderen-“ und dann das „Mal-uns-zusammen-Sehen“.

Da fällt mir gerade noch das alte Lied von Dorle Schönhals-Schlaudt aus dieser Kirchenzeit ein: „Steh auf! Bewege Dich! Denn schon ein erster Schritt verändert Dich, verändert mich!“. Ja, es war schon klasse damals!
Wie schön wäre es, wenn Du mit uns gemeinsam eine neue Gesellschaft schaffen würdest.
Sprich mich an.

Herzlichst Deine Christiane Kilian

(am 26.07.2020)